Wann ich das erste Mal auf das Buch „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron traf, weiß ich nicht mehr, aber es war noch bevor ich selbst Kurse in kreativem Schreiben gab. Es ist auf jeden Fall schon mehr als 20 Jahre her.
Kein typischer Schreibratgeber im Sinne von „Wie schreibe ich für Leser“, sondern ein Kreativitätsratgeber im Sinne von „Wie werde ich kreativ.“
Die Morgenseiten aus „Der Weg des Künstlers“
Wenn man ein Buch schon vor einigen Jahren gelesen hat, erinnert man sich eher an das Gefühl, das das Buch bei einem ausgelöst hat, als an einzelne Tipps. Bei dem „Weg des Künstlers“ ist es auch so. Fast zumindest.
Ich weiß noch, dass mir daran gefallen hat, wieviele aufbauende Zitate drin standen. Dass es auch ein Programm hat zum Durcharbeiten. Programme fühlen sich ja meist gut an, sie geben einem eine Art von Halt.
Aber es gab auch ein Detail, an das ich mich noch sehr gut erinnere. Und nicht nur ich, die allermeisten, die das Buch gelesen haben, erinnern sich auch noch daran. Eine Übung.
Die sogenannten Morgenseiten.
Es gibt keinen Kurs in kreativem Schreiben, keine Ausbildung in Schreibpädagogik, in dem nicht irgendwann diese Morgenseiten das Thema sind.
Warum?
Warum unter all den Tipps, den aufmunternden Hinweisen, den Zitaten, den Programmpunkten im Buch sind es ausgerechnet die Morgenseiten, die fast jedem im Gedächtnis bleiben?
Was ist an den Morgenseiten so besonders?
Dazu muss man erst einmal beschreiben, was das ist. Die Empfehlung von Julia Cameron war folgende: jeden Morgen, noch bevor man etwas anderes tut, alles aufschreiben, was einem so durch den Kopf geht. Ohne auf Stil, auf Sinn, auf Rechtschreibung etc. zu achten. Es einfach fließen lassen.
Nun, das kannten wir ja schon. Freewriting oder automatisches Schreiben. Das hatten bereits die Surrealisten in den 1920ern als eine Methode für Autoren genannt, um in den Flow zu kommen und das Unterbewusste anzuzapfen. Nicht neu.
Was war es also?
War es das Schreiben am Morgen? Als allererstes? War das das Besondere? Aber von vielen Schriftstellern ist das ja auch beschrieben. Morgens gleich anfangen und losschreiben. Auch nicht neu.
Also was?
Dass es nicht für andere, sondern nur für sich selbst ist? Naja, das kennen wir ja vom Tagebuchschreiben.
Was also macht die Morgenseiten so besonders, dass sie sich zu einer der beliebtesten Methoden im kreativen Schreiben entwickelt haben? Nun, meiner Meinung nach gibt es einen Punkt, der alles anders macht. Einen Punkt, der den Morgenseiten zu ihrem Erfolg verholfen hat:
Es ist der Null-Anspruch!
Es wird noch weniger erwartet als vom Tagebuchschreiben. Die Seiten sind im Prinzip für den Müll gedacht. Einfach nur dazu da, um ins Schreiben zu kommen. Sich den Kopf frei schreiben, den Alltag wegschreiben, die Sorgen zur Seite schreiben, die Überlegungen, die anstehenden Entscheidungen, alles aufschreiben und dann das Papier nehmen und weg damit. Entweder in einen Ordner, in den man vorerst nicht mehr hinein sieht, in einen großen Umschlag oder eben in den Müll. So hat man nicht einmal den Anspruch an diese Seiten, dass sie etwas dokumentieren sollen, wie ein Tagebuch, dass sie etwas für später festhalten müssen.
Kurz, die Morgenseiten haben einfach gar keinen Anspruch an die Schreiber, außer dem einen: zu schreiben.
Dadurch werden sie so niedrigschwellig, dass man es auch tut. Noch niedrigschwelliger als Tagebuchschreiben.
Und das ist das Geheimnis ihres Erfolgs!
Was ja viel über unseren eingebauten Perfektionismus aussagt, der immer als schwarze Wolke über uns schwebt. Perfektionismus, der selbst den stärksten Schreibmut killen kann.
Erst wenn wir uns fest vornehmen, dass wir diese drei Seiten, die wir in den nächsten etwa 15 Minuten beschreiben werden, danach nicht mehr brauchen, sie sogar in den Müll werfen dürfen, erst dann ist die Hürde des Perfektionismus für kurze Zeit aus dem Weg geräumt. Und so kommen wir ins Schreiben, wir genießen den Schreibprozess, weil wir uns darin ausdrücken können, wir üben uns im schriftlichen Denken, darin, Gefühle zu Papier bringen, die Hand schreibend bewegen, wir setzen uns schreibend mit unserem Alltag auseinander, kämpfen schreibend gegen innere und äußere Gegner, lassen vielleicht den gestrigen Tag Revue passieren …
Mehr muss es erst einmal nicht sein.
Da über allen Kreativen diese schwarze Perfektionismus-Wolke schwebt und weil sie uns viele Blockaden einträgt, haben sich die Morgenseiten verselbständigt und das Buch von Julia Cameron wurde zu einer Art Kultbuch der Kreativen.
Und wo ist dann nun eigentlich mein Ärger?
Der liegt im Namen: Morgenseiten.
Viele von uns nutzen diese Methode nicht morgens, sondern dann, wenn es passt. Also abends, mittags nachts, wann auch immer. Hilfreich sind sie zu jeder Tageszeit.
Abend-, Mittag- oder Morgenseiten?
Deshalb suche ich für meine Kurse in kreativem Schreiben nach einem anderen Namen für die Seiten.
Ich habe einmal erwähnt, dass ihr Ziel ja eigentlich der Müll sei, daher könne man sie Müllseiten nennen, worauf die Teilnehmenden regelrecht empört reagierten. Für sie nämlich waren diese Seiten zu einer liebevollen Me-Time geworden, eine Selbstfürsorge, die einen ganz eigenen Zauber entwickelte und so etwas darf man nicht Müllseiten nennen. Ich habe es eingesehen.
Was aber dann?
Julia Cameron hat übrigens den Vorschlag gemacht, sie „unrühmliche Gehirnentleerung“ zu nennen, aber auch dieser Name hat sich offensichtlich nicht durchgesetzt.
Zauberseiten? Würde das Wort Zauber nicht schon wieder Druck machen, dass das, was da fließt, zauberhaft sein muss?
Schreibfluss-Seiten? Das wäre zu lang.
Einfach-losschreiben-Seiten? Auch zu lang.
Morning-Pages, damit es sich ein bisschen … fancyer anhört? Nein, da ist der Morgen ja immer noch drin.
Das also ist mein ganz persönlicher Kummer mit den wunderbaren Morgenseiten. Dass ich einfach keinen passenderen Namen finde. Obwohl ich diese Seiten nie morgens schreibe und viele meiner Kursteilnehmenden auch nicht. Tja.
So können eben auch kreativ Schreibende scheitern an mangelnder Kreativität. Aber eigentlich muss ja nicht alles so perfekt sein, auch nicht der Name für Seiten, die den Perfektionismus für eine kleine Zeit wegschieben.
Das Wichtigste ist, dass Julia Cameron uns mit dieser Methode ein großartiges Geschenk gemacht hat!
… aber trotzdem habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben und bin offen für Anregungen.
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